«Wir wissen noch nicht, worauf es wirklich ankommt»

Interview mit Roger Staub

Roger Staub verfügt über einen Master of Public Health und einen Master in Applied Ethics. Er war Mitbegründer der Aids-Hilfe Schweiz und über viele Jahre Leiter der STOP AIDS-Kampagne beim Bundesamt für Gesundheit BAG. Seit 2017 ist er Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana und setzt sich als Präventionsfachmann auch für erste Hilfe im Bereich psychische Gesundheit ein.

Andreas Dvorak führte dieses Interview mit Roger Staub Ende April 2020 im Rahmen eines Videogesprächs durch und befragte ihn zu den Parallelen zwischen Corona und früheren Epidemien. Das Hauptinteresse lag dabei auf folgender Fragestellung: «Können wir aus vormaligen Epidemien und den damals gemachten Erfahrungen für heute und in die Zukunft lernen»?

Roger Staub, in den letzten Wochen wurden Stimmen laut, dass in der aktuellen Situation rund um COVID-19 nur bedingt frühere Erkrankungen mit einbezogen werden, obwohl gewisse Themen sich ja bspw. auch beim Aufkommen des HI-Virus gezeigt hatten. Welche Erfahrungen von damals würdest Du mit den heutigen Gegebenheiten vergleichen?
Ich habe keine präzise Antwort auf deine Frage. Als ich, vor dem Hintergrund von fünfzehn Jahren BAG, Abteilung übertragbare Krankheiten, zum Jahresende (2019) von diesem Virus in Wuhan hörte, dachte ich nur «Nicht schon wieder!». Rückblickend hätte man bereits zu diesem Zeitpunkt reagieren müssen. Ich sage allen, die ich beim Segeln begleite: «Wenn Du auf dem Schiff das erste Mal denkst, jetzt könnte es Zeit sein, das Segel zu reffen; dann mach es sofort, danach ist es schon zu spät». Dieser Umstand treibt mich um. Da bestanden eigentlich Erfahrungen aus MERS und SARS – die Gründe weshalb man nicht auf diese zurückgegriffen hat kenne ich nicht. Es war aber immer klar, dass man Infektionskrankheiten nur in den Griff bekommt, wenn sofort reagiert wird.

Das andere, das mich sehr bewegt, ist dass die öffentliche Gesundheit in der Seuchenbekämpfung immer hin und her pendelt zwischen den Fragen der Seuchenstrategie und dem, was mit HIV entwickelt wurde, der sogenannten «Lernstrategie» im Umgang mit übertragbaren Krankheiten. Die Seuchenstrategie hat als Leitfrage: «Wie kann man möglichst schnell möglichst viele Infizierte identifizieren und stilllegen?». Die Lernstrategie fragt: «Wie können wir uns als Gesellschaft anders verhalten, dass wir mit dem Virus leben können?». Ich finde es spannend zu sehen, dass in Zusammenhang mit dem Corona-Virus in der Schweiz mit der Seuchenstrategie begonnen wurde. Das hat nicht die erwünschte Wirkung gezeigt. Somit wurde auf die Verhaltensänderungstheorie zurückgegriffen. Es wurde alles heruntergefahren und neue Verhaltensregeln verkündet und jetzt will man zurück zur «Containment-Strategie». Die Schwierigkeit ist, dass die öffentliche Gesundheit noch keine Form der Seuchenbekämpfung gefunden hat, welche nicht entweder oder kennt. Es ist der Bevölkerung zu wenig klar, ob sie nun in der Verantwortung ist, oder ob sie diese abgeben kann. So müsste den Leuten erklärt werden, dass zwar die öffentliche Hand etwas tut, aber jeder und jede Einzelne auch in der Verantwortung steht. Eine Mischung aus Elementen der alten Seuchenstrategie mit modernen Strategien der Aufklärung und Verhaltensänderung – dies als Gesamtpaket zu sehen, wäre optimal.

Heute gibt es ja verschiedene Vorstellungen, wie es weiter gehen könnte: Impfungen, Contact-Tracing, Tests etc. – mit Deiner Erfahrung, wie würdest Du denn jetzt weiterfahren, respektive, wie habt Ihr es bei Aids gemacht und welche Faktoren haben Euch am meisten geholfen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich verfüge nicht über die umfassenden Informationen. Es fallen mir allerdings einige Parallelen auf, dass gewisse Themen «gehypt» werden – das erfolgt heute rasanter und schneller als damals bei HIV. Da ging das jeweils noch langsam und über Jahre hinweg.

Was mich immer noch stört, ist dass in der öffentlichen Diskussion nicht richtig über Viren gesprochen wird. In der Berichterstattung findet man viele Formulierungen wie «das Virus dringt in den Körper ein» oder «das Virus befällt» oder «das Virus legt lahm» oder «das Virus überlebt» und an dieser Sprache höre ich, dass die Person, die das äussert eine falsche Vorstellung von Viren hat. Es ist nicht zielführend, wenn wir uns Viren als kleine böse Käferchen vorstellen, die in einer Person sitzen und andere Menschen bedrohen. Dass dies Ängste auslöst, haben wir schon bei Aids gesehen. Menschen fürchteten sich vor Aidskranken, weil sie dachten, dass die bösen Käferchen sie bald anspringen würden. Ich hielt Mitte 80er Jahre hunderte von Vorträgen, wo ich Fotos von Viren unter dem Mikroskop zeigte und das Publikum fragte, «Sehen Sie Hände oder Füsse, sehen Sie Flügel oder Schwimmflossen oder sonstige Hinweise darauf, wie dieses kleine Ding von A nach B kommen könnte»? Viren machen von selbst nichts.

Eine weitere Wiederholung ist für mich der Test-Hype. Ca. 1986 kam ein HIV-Antikörpertest auf den Markt. Sofort wurde von überall nach mehr Tests gerufen. Dabei wurde jedoch schnell klar, dass die Leute sich von den Tests Antworten erhoffen, die in dieser Art nicht geliefert werden können. Heute ist das ähnlich: wenn ich mich jetzt auf Corona testen lasse, kann man entweder Viren suchen und wenn es diese hat, belegt dies eine Ansteckung. Wenn es aber keine hat, weiss man nur, dass in den letzten fünf bis zehn Tagen keine Ansteckung erfolgt ist. Was die Leute aber wirklich wissen möchten, ist, ob sie negativ sind und das finden wir in dieser Exaktheit nicht heraus. Mit Antikörpertests wissen wir auch nicht viel mehr, denn solange nicht klar ist, ob dies zu einer Immunität führt, nützt dieser ebenfalls wenig. Ich bedaure, dass diesbezüglich nicht dazu gelernt wurde. Bei HIV sagte man «Ein negatives Testresultat sagt Dir, dass Du bis vor drei Monaten nicht angesteckt warst» – dies zeigt sehr schön, wie wenig ein solcher Test dem Einzelnen nützt, da dazwischen so viel geschehen sein kann. Aus Public Health Sicht wäre vermehrtes Testen interessant, da es einen Überblick böte, aber dem Individuum nützen die Tests eher wenig.

Was sind aus Deiner Sicht die nächsten Schritte im Umgang mit dem Coronavirus?
Der eingeschlagene Weg ist sicher ein passender. Die Primarschulen zu schliessen war evtl. etwas hart. Der Versuch langsam zu einer Normalität zurück zu kommen ist sinnvoll.

Die Herdenimmunität ist allerdings nicht ernsthaft denkbar. Selbst wenn das Gesundheitssystem aufgerüstet würde; wenn «nur» ein Prozent der Infizierten stirbt, wäre das zu viel. Wir könnten nicht einfach 85’000 Todesfälle in Kauf nehmen! Die Verknüpfung der Herdenimmunität mit der Impfung finde ich unnötig, denn ich lasse mich ja nicht impfen damit die Herdenimmunität steigt, sondern damit ich geschützt bin. Auch hier geschieht wieder eine Themen- und Ziel-Vermischung: für Public Health mag die Herdenimmunität von Bedeutung sein, für die einzelne Person allerdings nicht.

Die Zeit des Wartens bis zur Impfung wird bedeuten, dass wir uns an die zwei Meter Abstand gewöhnen müssen, dass wir keine Grossveranstaltungen geniessen, dafür aber mehr Masken tragen werden. Auch bei HIV lag viel Hoffnung auf einer möglichen Impfung – diese gibt es aber bis heute nicht. Deshalb müssen wir uns an Regeln gewöhnen. Bei HIV haben wir gesehen: Verhaltensänderungen werden mit der Zeit von der Bevölkerung getragen. Und so wird es auch das Los von uns allen sein, bei Corona zu schauen, dass wir die Reproduktionsrate unter 1 halten können.

Wir wissen noch nicht, worauf es wirklich ankommt. In der Schweiz sind wir mit einem moderaten Lock-Down davongekommen. Die Testfrage wird sein, ob das Resultat in der Schweiz gleich gut ist, wie bei Ländern, die ein strikteres Regime eingeführt haben. Wenn ja, haben wir es richtig gemacht. Wir werden Schritt für Schritt sehen, was passiert, wenn einzelne Bereiche, wie jetzt die Schule zurück zur Normalität finden.

Die App ist ein weiterer Glaubenssatz. Früher sagte man, testen ist gut, denn mehr Wissen ist besser. Jetzt heisst es, die App soll uns Wissen verschaffen. Für mich gibt es diesbezüglich einige ungelöste Fragen – was passiert zum Beispiel, wenn sich eine Person in einem Nebenzimmer aufhält und sich mit meinem Bluetooth verbindet? Auch heute gilt «No magic bullet available». Auch nicht gegen Corona.

Wie können wir lernen, mit dieser Situation mit Blick auf die Zukunft umzugehen und diese richtig einzuschätzen?
Die Faszination über theoretisch denkbare Übertragungswege nachzudenken, gab es auch bei HIV. Am Anfang war dort die Frage «Küssen gefährlich oder nicht»? Trotz mangelnder Studienlage beschlossen wir damals im BAG, dass wir der Bevölkerung das Küssen nicht verbieten wollen. Wir wissen dreissig Jahre später, dass Küssen bei HIV unbedenklich ist, aber beweisen lässt sich dies nicht, denn den Nichteintritt eines theoretisch denkbaren Ereignisses kann man nicht beweisen.

Solche Tendenzen gibt es bei Corona auch. Evident ist, dass grössere Flüssigkeitspartikel aus dem Hals-Nasenraum, welche ausgehustet und dann eingeatmet werden zu einer Ansteckung führen können. Im Chor singen und in der Nähe eines Vortragenden sitzen ist also nicht schlau. Aber wir wollen ja wissen, wo wir uns nicht anstecken. Die Zwei-Meter-Regel ist entstanden, da Partikel die von einer Person ausgeatmet oder gehustet werden schnell Richtung Boden streben. Es ist immer noch nicht beantwortet, was man machen muss, wenn man sich nicht anstecken will. Was ist eine einfach verständliche Präventionsbotschaft? Je einfacher, desto besser!

Wenn ich hier noch einmal eine Parallele zu HIV/Aids ziehe: sagt man den Leuten «Du sollst nicht ohne Gummi bumsen und keinen ungeschützten Oralsex haben», dann gibt es ganz viele Leute, die einfach das eine lassen – nämlich das, was sie sowieso lieber nicht machen. Da Analsex aber viel gefährlicher ist, haben wir nicht über Oralsex gesprochen, sondern die Botschaft anders formuliert: «Eindringen nur mit Gummi». Die Preisfrage in der Prävention ist also: welche Regeln garantieren Sicherheit? Und wie können wir diese den Menschen möglichst einfach beibringen? Dieser Konflikt besteht aktuell ebenfalls. Der Bundesrat legt dar: «Bleiben sie zu Hause». Die wichtigen Botschaften sind aber «Halten Sie Abstand» und «Waschen Sie Ihre Hände». Mit der ersten Botschaft verhindert man natürlich, dass Menschen sich zu nahe kommen. Die Frage ist, braucht es alle drei Regeln und sind es die richtigen? Bei HIV hatten wir einfach viel mehr Zeit, um uns dies zu überlegen. Und es lief noch alles mit Papier und Schreibmaschine, selbst der Fotokopierer und Telefax waren noch relativ neu.

Schlussendlich geht es nicht darum «Social Distancing» zu betreiben. Es geht nicht um soziale Distanz, sondern um den physischen bzw. körperlichen Abstand zwischen zwei Menschen. Körperlichen Abstand zu bewahren, aber soziale Nähe aufrecht zu erhalten, das ist doch die entscheidende Botschaft!

Vielen Dank für das spannende Interview!